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41. Der Mautner

 

Beetle

Ein drahtiger kleiner Mann, von Kopf bis Fuß in allerlei Pelze gehüllt, kletterte am Stamm der Eiche herunter und hüpfte leichtfüßig in den Schnee. Seine tiefliegenden Augen, die wie schwarze Knöpfe aussahen, streiften Jenna und Beetle nur kurz und blieben dann auf Septimus haften. Sein runzliges braunes Gesicht erinnerte Jenna an den Affen eines Leierkastenmannes, den sie einmal auf einem Jahrmarkt gesehen hatte. Damals hatte ihr der Affe nicht gefallen, und heute gefiel ihr der Mann nicht.

»Für den Fall, dass ihr euch wundert«, sagte der Mann. »Ich bin der Mautner. Niemand überquert die Brücke, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Die einen bezahlen mehr, die anderen weniger. Das hängt ganz davon ab.«

»Wovon?«, fragte Jenna scharf. Die Art, wie der Mann sie ansah, gefiel ihr nicht.

»Wie sie mir gefallen. Und wie viel Gold sie haben.« Er lächelte unangenehm und entblößte dabei zwei Reihen Goldzähne in allen erdenklichen Größen und Formen, die überhaupt nicht zusammenpassten. »Keine Sorge, junge Dame«, fuhr er fort, »wie ich sehe, besitzt ihr jungen Leute noch eure eigenen Zähne, und von denen habe ich nichts. Ich bin ein redlicher Mann. Ich verlange von den Leuten nichts, was sie mir nicht geben können.« Er schüttelte wie belustigt den Kopf. »Aber es überrascht mich doch immer wieder aufs Neue, was die Leute geben können, wenn sie müssen.« Er fuhr mit einer langen, blassen Zunge über seine ungleichen Zähne und grinste wieder.

»Und?«, fragte Jenna. »Was kostet die Überquerung der Brücke?«

»Wie gerne würdet ihr denn hinübergehen?«, fragte der Mautner.

Keiner antwortete, denn hinübergehen wollte eigentlich keiner. Nur auf der anderen Seite sein wollten sie.

»Also, wollt ihr nun hinüber, oder wollt ihr sie euch nur ansehen?«, fragte der Mautner gereizt. »Auch ansehen kostet etwas. Das kann ich nicht haben, wenn den ganzen Tag Leute hier herumlaufen und bloß gaffen.«

»Wir wollen hinüber«, sagte Jenna entschieden. »Wie viel verlangen Sie?«

Der Mautner musterte sie von oben bis unten. »Nun, junge Dame. Das ist ein schöner Goldreif, den du da auf deinem hübschen Köpfchen trägst. Den nehme ich.«

Jennas Hände flogen zu dem Diadem, das schon ihre Mutter, die Königin, als Mädchen getragen hatte. »Den können Sie nicht haben!«, stieß sie hervor.

Der Mautner zuckte mit den Schultern. »Dann darfst du nicht hinüber.«

Schweren Herzens fasste Jenna nach oben, um den Goldreif abzunehmen. Es war ja nur ein Schmuckstück. Nicko war mehr wert als Gold. Viel mehr. Doch der Mautner hatte sich schon von ihr abgewandt. Er beäugte jetzt Beetle. »Von dir, Junge, möchte ich die Uhr«, sagte er.

Beetle blickte entsetzt. »Woher wissen Sie, dass ich eine Uhr habe?«, fragte er.

Der Mann stutzte, für einen Augenblick aus der Fassung gebracht. »Ich höre sie ticken. Ich habe ein feines Gehör für Uhren.«

Beetle runzelte die Stirn. Er warf Septimus einen fragenden Blick zu, und der antwortete mit einem leichten Nicken. »Und du, Junge«, fuhr der Mann, an Septimus gerichtet, fort, »hast einen schönen silbernen Gürtel, mit ein paar Goldstücken daran. Der wird mir genügen. Den wertlosen Krimskrams darin nehme ich auch.« Der Mann zeigte ihnen sein strahlend goldenes Grinsen. »Ihr seht, ich bin ein redlicher Mann. Ich verlange nichts, was ihr nicht habt.« Damit zog er einen großen Samtbeutel aus der Tasche, der an einem zusammenklappbaren Holzring hing. Mit einer geübten Bewegung aus dem Handgelenk klappte er den Ring auseinander, und der Beutel baumelte daran wie eine leere Socke. Wie der Affe des Leierkastenmanns hielt er Septimus den Beutel hin. »Du zuerst, Junge. Tu den Gürtel hier rein.«

Ganz langsam schnallte Septimus seinen Lehrlingsgürtel ab. Der Mautner beobachtete ihn scharf mit gierigen Augen und leckte sich in Vorfreude schon wieder die Zähne. »Beeilung, Junge. In dem Tempo kommst du nicht hinüber, solange es noch hell ist.« Septimus fummelte ungeschickt an dem letzten Teil der Schnalle herum, teils weil ihm seine klammen Finger nicht recht gehorchten, hauptsächlich aber weil er Zeit zum Nachdenken brauchte. Ein anderer Spruch aus der Jungarmee ging ihm im Kopf herum: Willst du im Kampf den Sieg erringen, musst ihn zur rechten Zeit beginnen. Zur rechten Zeit beginnen, dachte er und biss die Zähne zusammen, zur rechten Zeit!

Mit einem Klicken ging die Schnalle endlich auf, und der Mautner beugte sich mit seinem Sammelbeutel vor. In diesem Augenblick warf sich Septimus auf den Mann und riss ihn um. Der Mautner fiel rücklings in einen Schneehaufen. Bevor er dazu kam, Septimus wegzustoßen, stürzte Beetle hinzu, und mit Entsetzen sah Jenna, wie die drei am Boden miteinander rangen und einem großen Schneeball gleich auf den Rand des Abgrunds zurollten.

Der Mautner war nicht groß, aber er war stark, und ohne Beetles Hilfe – und seine Bereitschaft, ein paar herzhafte Faustschläge zu landen – wäre Septimus hoffnungslos unterlegen gewesen. Zu Jennas Erleichterung kam der Schneeball kurz vor dem Abgrund zum Liegen. Septimus und Beetle befanden sich oben, der Mautner unten. »Stoß ihn runter, Sep«, rief Beetle. »Mach schon!«

»Nein!«, schrie Jenna, von Grauen gepackt bei dem Gedanken, dass sie jemanden in den Tod stürzten. »Nein! Das könnt ihr nicht tun. Das könnt ihr nicht!«

Es schien, als sollte sie recht behalten. Als hätte ihm Jennas Zuruf – und der vorübergehende Konzentrationsverlust der Jungen – Auftrieb gegeben, setzte der Mautner neue Kräfte frei. Mit einer wütenden Bewegung schüttelte er Beetle ab und schleuderte ihn gegen die Böschung des Pfads. Mit einem scharfen Knacken schlug Beetles Kopf gegen den gefrorenen Boden. Er sackte in sich zusammen, und ein rotes Rinnsal rann hinter seinem Ohr hervor und färbte das Eis rosa.

Jenna blickte zu Beetle. Wenigstens war er in sicherer Entfernung vom Abgrund – im Gegensatz zu Septimus. Denn der hing bereits mit dem Kopf über dem Rand, und der Mautner war drauf und dran, den Rest von ihm folgen zu lassen.

Septimus starrte in den Abgrund und versuchte, nicht daran zu denken, wie tief es durch den Nebel nach unten ging. Während er sich gegen die unablässigen Stöße des Mautners stemmte, dessen scharfes Keuchen er in seinem Nacken spürte, wünschte er sich mehr denn je, er hätte den Flug-Charm bei sich. Er konnte ihn so deutlich sehen, dass er ihn fast in seiner Hand spürte. Die kleinen silbernen Schwingen des Amuletts, das Marcia ihm geschenkt hatte und das Teil des Flug-Charms geworden war, flatterten ...

Dann plötzlich war er über der Kante. Als er zu fallen begann, unvorstellbar langsam, wie ihm schien, bekam er eine Brückenstrebe zu fassen, und dort hing er dann und baumelte über dem Abgrund.

Jenna war es inzwischen gleich, ob der Mautner in den Tod stürzte oder nicht. Sie versetzte ihm einen Faustschlag. Der überrumpelte Mann fiel mit dem Gesicht voran in den Schnee und schlug sich einen Goldzahn aus. Erschöpft scharrte er im Schnee danach.

Jennas Gesicht erschien über dem Rand des Abgrunds, bleich und voller Angst vor dem, was sie sehen würde. »Nimm meine Hand, Sep. Schnell.«

»Nein, Jenna. Sonst ziehe ich dich mit herunter.«

Jenna sah ihn böse an. »Du sollst meine Hand nehmen, Septimus!«, schrie sie.

Septimus gehorchte. Er ergriff ihre Hand, und zu ihrer beider Überraschung schwebte er so leicht nach oben, dass sie nebeneinander in den Schnee purzelten.

Unterdessen hatte der Mautner seinen Zahn gefunden, doch als er den blutigen Goldklumpen sah, verzerrte ein ärgerlicher Ausdruck sein Gesicht, und er warf ihn angewidert fort. Deswegen war er doch nicht hergekommen – was tat er hier eigentlich? Aber bevor er dazu kam, sich die Frage zu beantworten, erhielt er zwei erbarmungslose Stöße und stürzte über den Rand.

Jenna war schockiert darüber, was sie getan hatten. »Er ist fort«, sagte sie.

Septimus war sich da nicht so sicher. Vorsichtig beugte er sich über den Abgrund, um nachzusehen. Da schoss eine behandschuhte Hand aus dem Nebel hervor und packte ihn am Mantel. Septimus entwand sich dem Griff und sprang zurück – der Mautner hing an derselben Stahlstrebe, an der er eben noch selbst gehangen hatte, und funkelte ihn aus zornigen Augen an. »Für dich gibt es kein Entrinnen, Lehrling«, knurrte er. »Die Verdunklung ist vollbracht.«

»Wer ... was sind Sie?«, fragte Septimus.

Der Mautner lachte. Er zog die linke Hand aus dem Handschuh, der an dem Stahlpfeiler festgefroren war, und schnappte abermals nach ihm. Septimus bekam in der Luft sein Handgelenk zu fassen. Am kleinen Finger des Mannes saß, genau wie er erwartet hatte, eine kleine schwarze Lakritzschlange.

»Die nehme ich«, sagte er und zog sie vom Finger. Darauf begann der Mautner lauthals zu schimpfen, und zwar in der Dunkelsprache, wie Septimus erkannte. Es war abscheulich. Die Verwünschungen bohrten sich in seine Ohren, sein Gehirn und versuchten, ihn irrezumachen, doch Septimus besann sich auf seine Abwehrzauber, und während er diese unablässig vor sich hin murmelte, bemühte er sich, die andere Hand des Mautners von dem Pfeiler loszureißen.

Doch die schwarzmagischen Verwünschungen hielten an, und Septimus spürte, wie seine Kräfte erlahmten. »Hilf mir, Jenna«, rief er. Im nächsten Augenblick war Jenna neben ihm, und zusammen drehten sie die Hand des Mautners aus dem Handschuh. Und dann, ganz plötzlich, war es geschafft. Alles, was vom Mautner blieb, waren ein Paar braune Wollhandschuhe, die an dem Pfeiler klebten – und ein Schrei, der sich rasch im Nebel verlor.

Jenna sank aufs Eis und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich kann nicht glauben, was wir getan haben«, sagte sie und sah Septimus bestürzt an. »Sep, wir haben gerade jemanden umgebracht.«

»Ja«, erwiderte Septimus nur.

»Aber das ist entsetzlich«, sagte Jenna. »Ich ... ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas ...«

Septimus sah Jenna an, und seine grünen Augen blickten ernst. »Alles andere ist ein Luxus, Jenna«, sagte er.

»Was meinst du damit?«

Septimus starrte in den aufgewühlten und blutbefleckten Schnee zu seinen Füßen. Er brauchte eine Weile, ehe er antworten konnte. »Ich meine ...«, begann er langsam. »Ich meine, man kann von Glück sagen, wenn man im Leben niemals in eine Situation gerät, in der man einem anderen das Leben nehmen muss, damit man selbst weiterleben kann. Das wollte ich damit sagen.«

»Das ist furchtbar, Sep.«

Septimus zuckte mit den Schultern. »Manchmal ist es eben so. Das habe ich bei der Jungarmee gelernt. Entweder landet der Oberkadett in der Wolverinengrube oder du.«

Jenna schüttelte ganz langsam den Kopf, noch immer fassungslos über ihre Tat.

»Jenna, sieh mal. Vielleicht heitert dich das etwas auf«, sagte er leise und hielt ihr die kleine schwarze Lakritzschlange hin.

»Oh.«

»Sie steckte am kleinen Finger seiner linken Hand. Es war das Gespenst, Jenna. Es war ein Kampf auf Leben und Tod: das Gespenst oder wir. Wir hatten keine andere Wahl – und das weißt du.«

»Aber es war auch der Mautner«, sagte sie.

»Ja, ich weiß.«

Septimus erhob sich und trat an den Rand des Abgrunds. Er ging so weit vor, wie er sich traute, dann murmelte er einen Abwehrzauber, zerbröselte den Lakritzring zwischen den Fingern und ließ die Krümel in die Tiefe fallen.

Hinter ihm ertönte ein leises Stöhnen. Jenna sprang auf. »Beetle!«

»Oooh ... wo bin ich?«, kam stöhnend als Antwort.

Es bedurfte einiger Überredungskunst, ehe sich Beetle dazu bewegen ließ, in das Baumhaus des Mautners hinaufzuklettern, obwohl stufenartige Kerben in die Rinde der Eiche gehauen waren. Septimus schob, und Jenna zog, und irgendwie schafften sie es bis zu dem windschiefen Verschlag aus Brettern und Fellen, der auf einer Plattform zwischen den beiden Hauptästen errichtet war. Vor dem Eingang hing die Haut eines großen, rötlichen Tiers mit gewaltigen gekrümmten Klauen, die klapperten, als Jenna die Türklappe vorsichtig anhob. Aus dem Baumhaus drang ein muffiger – und merkwürdig vertrauter – Geruch. Sie spähten hinein, doch im Innern war es stockdunkel. Zu erkennen war nur, dass auch der Fußboden mit Fellen ausgelegt war.

Mit einer letzten Kraftanstrengung zogen und schoben Jenna und Septimus den benommenen – und ziemlich schweren – Beetle in das Baumhaus, und krochen dann selbst hinterher.

Es war schon jemand drin.

Septimus Heap 04 - Queste
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